Einleitung
Bei der aktuellen Diskussion über die Migranten in Wien habe ich das Gefühl, das alles schon einmal gehört, teilweise auch erlebt zu haben, weil meine Familie der tschechischen Minderheit in Wien angehört. Als erster Leser des Beitrags von Siegfried Pflegerl in diesem Heft wurde ich motiviert die Migration der Böhmen, Mährer und Slowaken zusammenzufassen und dann aus den dokumentierten Daten meiner Familie deren Migrations-, Integrations- und Assimilationsprozess zu beschreiben; in meiner Familie bin ich zufällig jene Person, die den Wandel von der tschechischen zur deutschen Sprache vollzogen hat.
Die Migration der Tschechen im 19. Jahrhundert nach Wien hatte rein wirtschaftliche Gründe; heute würden wir sagen, die Tschechen waren Wirtschaftsflüchtlinge. Es war die existenzielle Not der Landbevölkerung, die Metropolen wie Wien, Paris, Berlin und London mit Menschen überschwemmte.
Aber „Wien war anders“, denn Wien war die einzige dieser Metropolen, deren Zuwanderer eine andere Sprache hatten. Dieser Umstand resultierte in einer—wie wir heute sagen—Parallelwelt. Zwar waren in Wien neben dem Tschechischen auch viele andere Sprachen zu hören, doch keine andere erreichte diese angsterregende Dominanz des Tschechischen; eine Folge der Nähe der Herkunftsländer aber auch eine Folge des Fehlens einer Eigenstaatlichkeit der Tschechen wie sie bei den Ungarn gegeben war.
Das Wien um 1900 ist jene Episode der Weltgeschichte, aus der wir die richtigen Lehren ableiten können, wenn wir nicht wieder in ausweglose und unkontrollierbare Nationalismen geraten wollen, denn genau dieses multikulturelle Spannungsfeld im Wien der Jahrhundertwende treffen wir heute in vielen europäischen Großstädten, deren Migranten oft aus der Türkei oder aus anderen islamischen Ländern stammen. Die Frage ist daher, ob die richtige Antwort auf die Migrationswelle jene populistisch-nationalistische des damaligen Bürgermeisters Lueger war oder die eher konziliante des „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit.
Eine egozentrische Interpretation der Geschichte der tschechischen Migranten könnte so lauten, dass das Unvermögen des Umgangs mit ihrer Anwesenheit in Wien, die letzte Ursache für zwei Weltkriege gewesen sein könnte. Des ersten, weil man die Sprengkraft des Nationalismus unterschätzt hat und die Lösung dafür nur in einem Krieg sah; des zweiten, weil viele ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus im Wien der Jahrhundertwende, in diesem Schmelztiegel der Kulturen, gelegt wurden. /1/ /2/
Eine sarkastische Interpretation könnte auch so lauten, dass der entspannte Umgang mit Migranten ihre Marginalisierung erfordert, denn die Repression der tschechischen Migranten zuerst unter Lueger, dann das vollständige Verbot ihrer Einrichtungen unter Hitler, die Rückwanderungswellen nach dem ersten und zweiten Weltkrieg, das Aushungern durch den Eisernen Vorhang verkleinerte die Gruppe der Tschechen so stark, dass ob ihrer Kleinheit kein Konfliktstoff mehr bestand und sie schließlich zu einer anerkannten Volksgruppe wurde.
Migration der Tschechen, Mährer und Slowaken
Das Wien um 1900
Was wir heute in der Frage der Migration erleben, ist nur eine Miniaturausgabe der Umbrüche am Ende des 19. Jahrhunderts, die am besten durch die die Grafik der Bevölkerungsentwicklung Wiens dargestellt wird. Die Bevölkerung Wiens hat sich zwischen 1850 und 1910 durch Zuzug vervierfacht.
Die anderen europäischen Metropolen hatten ähnliche Wachstumsraten durch Urbanisierung im Zuge der Industrialisierung und Rationalisierung in der Landwirtschaft, aber es gab einen wesentlichen Unterschied: die Sprache. Die Neuankömmlinge in Wien wurden mehr als Bedrohung wahrgenommen als in den anderen Metropolen. Und daraus ergab sich Angst vor Überfremdung, verstärkt durch den allerorts boomenden Nationalismus.
Die Stadt wuchs durch stetigen Zuzug aus den damaligen Kronländern, allen voran Böhmen, Mähren und Slowakei zur fünftgrößten Stadt der Welt /3/. Getrieben einerseits durch die Rationalisierungsprozesse der landwirtschaftlichen Fertigung, durch den Arbeitsplatzmangel für jene Kinder in den ländlichen Gebieten, die eben nicht gerade die Hoferben waren aber auch durch die Sogwirkung der Industrialisierung mit dem großen Bedarf an Arbeitskräften.
Um 1910 hatte die Stadt mehr als 2 Millionen Einwohner; davon waren 49% in Wien geboren, 25% in Böhmen, Mähren, Schlesien und der Slowakei und der Rest aus den übrigen Ländern der Monarchie. Man muss aber dabei bedenken, dass auch von den 49% der in Wien geborenen bereits ein großer Teil bereits von den Migranten der vergangenen Jahrzehnte abstammte und daher die Zahl der tschechisch sprechenden Bevölkerung noch viel größer war. /44 S.136/
Diese Zeit war gleichermaßen eine Blütezeit der Kultur und des Städtebaus wie auch eine Zeit des Elends in den Migrantenghettos der Vorstädte. Favoriten, Fünfhaus, Ottakring waren damals und sind auch heute der Schmelztiegel aus dem sich Wien jedes Mal aufs Neue definiert. Favoriten war der „šesták“-Bezirk (benannt nach dem Sechskreuzerstück /5/) und Synonym für die dort ansässige tschechisch-stämmige Bevölkerung. Es wird behauptet, Wien sei überhaupt die größte oder zumindest zweitgrößte tschechische Stadt gewesen.
Welche Großbauten der damaligen Zeit man immer heute bewundert, die Hochquellenwasserleitung, die Ghega-Bahn, die Ringstraßenbauten, die Donauregulierung und andere, immer waren Migranten, diejenigen, die Ziegel an Ziegel legten und wenn sie nicht selbst am Bau beschäftigt waren, dann stellten sie in den Gruben, aus denen Wien gebaut wurde, in den Ziegelteichen, die Ziegel dafür her. /44/ Man sollte sich daran erinnern, dass diese Leistungen durch Migranten erbracht wurden, denen ein rauer Assimilationsdruck seitens der Mehrheitsbevölkerung entgegenwehte.
Geprägt waren die letzten Jahre der Monarchie durch Bürgermeister Karl Lueger /6/ /7/. Der damalige Reichsrat wurde aus Abgeordneten aus den heute zu Österreich, zu Tschechien und der Slowakei gehörenden Ländern gebildet. „Als im Jahre 1907 das erste Parlament in Wien durch allgemeine und gleiche Wahlen gewählt wurde, ist die slawische Mehrheit im Reichsrat besiegelt (233 deutsche, 265 slawische Stimmen bei 28 Fraktionen).“ /8/ Offenbar wurde der Herkunft der Abgeordneten mehr Bedeutung zugemessen als ihrer Fraktion. Einer dieser Abgeordneten war T.G. Masaryk, der später erste tschechoslowakische Präsident. Er sollte später aus dem Ausland die Sezession der Tschechoslowakei (inklusive der Sudentenländer) vorbereiten.
Alle Versuche des Herrn „Procházka“ (Spaziergänger), /4/ wie Kaiser Franz Josef scherzhaft in Tschechien genannt wurde, einen Ausgleich mit den Tschechen auszuhandeln, waren gescheitert. Nur ein solcher hätte diese Mehrheitsverhältnisse verhindert und die Sezessionsbestrebungen, die letztlich zum Zerfall der Monarchie geführt haben, in ihrer Sprengkraft verringert.
So aber musste Lueger seine Stadt gegen das das Lager der tschechisch-nationalen Abgeordneten, verstärkt durch ein Heer von 600.000 Migranten in der Stadt, regieren und gleichzeitig die Ängste der deutschen Bevölkerung berücksichtigen. Er tat es durch einen offen vorgetragenen Deutsch-Nationalismus und Antisemitismus, der ihm heute angelastet wird.
Dass er sich des von ihm angewendeten Populismus sehr wohl bewusst war, kann man an folgendem Ausspruch bemerken: „Ja, wissen’S, der Antisemitismus is‘ a sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen; wenn man aber einmal oben is‘, kann man ihn nimmer brauchen, denn des is‘ a Pöbelsport!“ und „Wer ein Jud‘ ist, bestimme ich.“ /6/
Unter Lueger gab es öffentliche Posten in Wien nur mit deutscher Nationalität, vermutlich die treibende Kraft für rasche Eindeutschungen tschechischer Namen. Die Eindeutschung der Namen dürfte umso wichtiger gewesen sein, je mehr der betroffene Tscheche öffentlich auftrat, sei es als Beamter, Wirtschaftstreibender oder Sportler. (Bei den Mannschaftsaufstellungen des SK Rapid aus den ersten Tagen des österreichischen Fußballs um 1900 finden sich zahlreiche bereits eingedeutschte tschechische Namen.)
Das von Lueger eingerichtete Ritual des „Wiener Bürgergelöbnis“ umfasste einen Schwur auf den „deutschen Charakter der Stadt Wien“, der jedem Neubürger, gleich welch nationaler Herkunft dieser auch immer war, abgenötigt wurde und in weiterer Folge auch getreu praktiziert werden musste. Ansonsten konnten unliebsame Konsequenzen drohen. /1/
Ein Wiener Sprichwort um 1900:
»Es gibt nur a Kaiserstadt.
Es gibt nur a Wien.
Die Wiener san draußen,
die Böhm, die san drin.«
Dieses Sprichwort zeigt die Angst der Einheimischen vor Überfremdung, vor weiteren Zuwanderern, vor allem vor den Tschechen.
Abschiebungen waren auch damals an der Tagesordnung: „1880 etwa wurden 7.051 Personen aus Wien abgeschoben: 2.222 Personen nach Böhmen, 1.503 nach Mähren, 225 nach Schlesien, 139 nach Galizien, 900 nach Ungarn und 312 nach Deutschland.“ Es handelte sich meist um Menschen, die verarmt waren. /10/
Wenn um die Jahrhundertwende 1900 Kinder an Pflegefamilien abgegeben wurden, dann jedenfalls nicht an Familien bei denen „der Verdacht auf böhmische Umgangssprache“ bestand.
Im Zuge des Nationalitätenkonflikts in der Monarchie verschärften sich die Auseinandersetzungen auch in Wien. »Germanisierung« oder »Slawisierung« waren die Parolen. Der christlich-soziale Bürgermeister Lueger hatte ein einfaches Konzept: »Der deutsche Charakter Wiens« muss aufrechterhalten werden, »eine Zweisprachigkeit darf in Wien nicht aufkommen«. Der Betrieb tschechischer Schulen wurde durch Bürgermeister Lueger teilweise erfolgreich verboten. Um die tschechische Schule am Sebastianplatz gab es zum Teil handgreifliche Konflikte.
Diese Politik der völligen Assimilierung der Tschechen stieß auf Ablehnung und Konfrontation in den tschechischen Arbeitersiedlungen Favoritens. Dort wurde fast nur »böhmisch« gesprochen, die kaiserlichen Verordnungen wurden in tschechische Sprache übertragen, ja die Gegend um den Wienerberg galt als »tschechische Sprachinsel«. Bei den Volkszählungen gaben die Ziegelarbeiter stolz »böhmisch« als ihre Umgangssprache an, obwohl sie gleichzeitig beeiden mussten, den deutschen Charakter Wiens nach Kräften aufrechterhalten zu wollen. Das bewirkte auch eine wesentliche Diskrepanz zwischen den Erhebungen bei offiziellen Zählungen und der Realität. Denn die Frage nach der Umgangssprache wurde sehr oft mit „deutsch“ angegeben, (etwa 6% ergaben diese Zählungen, entspricht etwa 120.000) weil man sich dazu teilweise verpflichten musste. Doch bis zu 600.000 Wiener waren in Böhmen, Mähren oder in der Slowakei geboren und daher war die „gefühlte“ Anzahl der Tschechen zweifellos größer als die Zahlen aus der Volkszählung vermuten lassen.
Die damalige tschechische Gesellschaft in Wien würde man heute als eine echte Parallelgesellschaft bezeichnen. Tschechen kauften bei Tschechen ein, besuchten tschechisch geführte Gasthäuser, spielten als Laienschauspieler am tschechischen Theater, bewegten sich praktisch ausschließlich in der tschechischen Gesellschaft.
Bis 1918 erlebten die tschechischen Migranten eine feindselige Stadt. Die Spannungen zwischen den Volksgruppen der Monarchie waren schließlich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ausschlaggebend. Die Ähnlichkeit der Lebensumstände der damaligen Tschechen zu den heutigen Türken ist auffällig. Damals wie heute ist Populismus in der Politik das Mittel zum Stimmenfang. Damals wie heute fragt man sich, wie in einer Kulturstadt derart niedrige Instinkte die Politik dominieren können.
Das Rote Wien
Diese Welt ist mit dem Ersten Weltkrieg jäh zusammengebrochen. Die kleine Republik Österreich hatte andere Sorgen. Die Not in Wien während der Kriegsjahre und danach war groß und in Tschechien winkten für tschechische Fachkräfte Jobs, denn der Beamtenapparat in Wien war für das klein gewordene Land viel zu aufgebläht und Tschechien hatte dringenden Bedarf an Beamten für die Strukturierung des Landes. Die Zahl der Tschechen sank, und bis in die dreißiger Jahre sind bis zu 200.000 Tschechen aus Wien nach Tschechien zurückgekehrt. /9/
Man könnte der Meinung sein, dass der Rest der Tschechen rasch von der Bildfläche verschwunden wäre, doch eher das Gegenteil war der Fall. Für den Rest der Tschechen in Wien war das nunmehr „Rote Wien“ eine Blütezeit. Was Lueger noch verhindert hat, wurde nun realisiert. Durch ein bilaterales Abkommen zwischen der der jungen Tschechoslowakei und der jungen Republik Österreich erklärte sich Österreich bereit, tschechische Schulen in Wien zu erlauben, die von der Tschechoslowakischen Republik erhalten wurden. 1934 zähle man in Wien 35 tschechische Schulen. Die Parallelgesellschaft der Tschechen wurde in verkleinerter Form und unterstützt durch die Schulen weitergeführt. Der Schulbesuch war kostenlos.
Zweifellos begünstigten die tschechischen Schulen den Erhalt der tschechischen Sprache in Wien. Die Schulen machten es leicht, Kinder zweisprachig in Wort und Schrift erziehen, sodass sie selbst jederzeit die Entscheidung für die eigene Umgangssprache treffen konnten. Die von der Tschechoslowakei finanzierten Schulen verringerten auch die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen.
Meine Tante erzählte mir, dass es in den dreißiger Jahren auch vorgekommen wäre, dass auch Kinder aus gemischtsprachigen Ehen die tschechische Schule besuchten, denn immerhin war der Schulbesuch und Verpflegung kostenlos und die Kinder hatten durch die zweisprachige Erziehung einfach mehr Chancen.
Unter dem Eindruck des österreichischen Bürgerkriegs vermieden viele Tschechen bei der Volkszählung im Jahr 1934 „tschechisch“ anzukreuzen, denn ein Großteil der Tschechen war der Sozialdemokratie nahestehend.
Das Wien im Zweiten Weltkrieg
1938 wurde alles anders. Unmittelbar nach dem Anschluss wurde die tschechische Unterrichtssprache verboten, der gesamte Besitz der tschechischen Minderheit wurde beschlagnahmt, die tschechischen Schulen wurden aufgelöst. /10/ Viele Wiener Tschechen emigrierten 1938 nach Tschechien, um dem Kriegsdienst zu entgehen. /11/
Die Volkszählung 1939 ergab um 40% mehr Tschechen als im Jahr 1934. Der Grund war, dass ein Ja zur tschechischen Nationalität eine Einberufung zur Wehrmacht verhinderte. Und alle Tschechen hatten einen Heimatschein ihrer Herkunftsgemeinde in der Tasche, der sie zu tschechischen Staatsbürgern machte.
Nur der Kriegsverlauf hinderte die nationalsozialistischen Machthaber daran, im Anschluss an die Deportation der Wiener Juden auch die Tschechen und Slowaken aus Wien zu vertreiben. Ein Schreiben von Martin Bormann an den Reichsleiter Baldur von Schirach nennt dies als die geeignetere Maßnahme zur Schaffung von Wohnraum als die Errichtung neuer Wohnviertel. Hitler: „Die Juden habe ich aus Wien schon heraus, ich möchte auch noch die Tschechen hinaustun.“ /12 S.466 /
Die Zweite Republik
Doch die Dezimierung der Tschechen in Wien hatte 1945 seinen Höhepunkt noch immer nicht erreicht. Der tschechische Staat bot 1946 den Wiener Tschechen leerstehende Wohnungen und Häuser in den Sudetengebieten an, deren deutschsprechende Bevölkerung vertrieben worden ist. Bis zu 24.000 Wiener Tschechen haben dieses Angebot angenommen.
Trotz Rückerstattung des gesamten Besitzes an die Wiener Tschechen nach dem Zweiten Weltkrieg führte die Abwanderung der „Sudentensiedler“ und die die nachfolgende Isolation des Ostblocks durch den Eisernen Vorhang ab 1948 dazu, dass von den ursprünglich 35 Schulen im Jahr 1934 nur mehr eine, die am Sebastianplatz, betrieben werden konnte. Die Finanzierung der Schule erfolgte zum Teil aus den Einnahmen der Vermietung der nicht mehr benötigten Gebäude.
Die Zeit des Eisernen Vorhangs ergab für die Wiener Tschechen eine Isolierung und dadurch verlief der familiäre und kulturelle Austausch mit dem Mutterland auf Sparflamme, die natürliche Assimilierung setzte sich kontinuierlich fort.
Die Wiener Tschechen verfügen seit 1976 über den Status einer autochtonen Volksgruppe (marginalisierte Gruppe ohne eigenes Siedlungsgebiet) /13 S.40 / /14/ /15/
Bruno Kreisky am 28. 3. 1977: „Die Wiener Tschechen haben in einer so einzigartigen Weise das Antlitz Wiens mitgeformt und so auch das Bild Österreichs mitgestaltet, dass ich kaum ein anderes Beispiel auf diesem alten Kontinent kenne, das einem ähnlichen Integrationsprozess der Völker unterworfen wäre.“ /13 S.85/
Die Errichtung des „Eisernen Vorhangs“ ab 1948, die Ereignisse des „Prager Frühlings“ 1968 und der „Samtenen Revolution“ 1989 brachten neue Migration und ab 1989 wuchs die tschechische Minderheit entgegen dem Trend der fortschreitenden Assimilierung wieder an. Durch die Öffnung der Grenzen 1989 war ein kultureller Austausch möglich und die Zahl der Tschechen in Wien ist nunmehr stabil. Der Schulbetrieb konnte sogar um eine zwei-klassige AHS erweitert werden. /16/
Was blieb von den Tschechen?
Eine ganze Menge! Wenigstens ein Viertel aller Namen des Wiener Telefonbuchs hat tschechische Wurzeln. Neulich war ich mit meinem Sohn in einer Bankfiliale. Die Dame an der Kasse hieß „Docekal“ (docekat=erwarten, docekal=ich habe etwas erwartet). Wir fragten sie, ob sie die Bedeutung ihres Namens kennt. Sie wusste nicht einmal, dass es ein tschechischer Name ist.
Die Tschechen sind so mit dem Bild der Stadt verwoben, dass man das Wienerische bereits an ihrem Vorhandensein misst.
Das Wienerische ist, das, mit dem man eben aufwächst. Kaum ein Kabarett der legendären Simpl-Bühne unter Karl Farkas oder eine Sendung von Heinz Conrads kam ohne eine Anspielung an die „guate alte Zeit“ aus „Als Böhmen noch bei Österreich war“. Die Anspielung „Bei uns in Reichenberg…“ (Liberec) von Maxi Böhm sind Legende.
Dass diese Anspielungen nach und nach ausbleiben, bedeutet einerseits, dass wir bereits eine versunkene Welt betrachten und auch, dass das Tschechische ganz selbstverständlich zur Stadt gehört.
Karl Schwarzenberg, Außenminister der Tschechischen Republik erinnert sich: „Sie kennen doch die Geschichte mit dem Wiener Telefonbuch, das das Brünner sein könnte: Ich kann mich an ein Treffen vor einiger Zeit erinnern, als ein gewisser Kanzler Vranitzky, ein Finanzminister Lacina und der Generalsekretär des Außenamts namens Klestil die Vertreter Prags trafen (lacht): Der Finanzminister hieß Klaus, der Außenminister Dienstbier und der damalige Kanzler Schwarzenberg.“
vranitzký = 1. „der mit dem Rappen“ von vraník=Rappe; 2. „der mit der Krähe“ von vrána=Krähe;
laciná“ = die billige (Ware);
klestil = 1. klestina=Patrone; 2. kleštit =kastrieren, kleštil = „er hat kastriert“.
Migration meiner Familie
Monarchie
Pohan, Kvacek, Fiala, Moravec sind die Familiennamen meiner Urgroßeltern. Die Urgroßeltern selbst blieben teilweise in Böhmen oder Mähren, teilweise folgten sie als letzte Migranten ihren bereits in Wien wohnenden Kindern, ganz ähnlich wie heute eine anatolische Großmutter ihren Kindern folgt. Diese Großelterngeneration kam um 1900, in der letzten großen Migrationswelle nach Wien. Sie kamen in eine bereits bestehende tschechische Parallelgesellschaft, mitten in die Nationalitätenkonflikte in der Regierungszeit Luegers.
Von den Urgroßeltern weiß ich wenig. Zwei der Urgroßmütter waren sehr religiös; sie waren als Schwestern in einem Kloster eingetragen. Das Kopftuch dürfte damals das Stadtbild genauso geprägt haben wie heute. Die tiefe Religiosität hat aber bereits bei der Großelterngeneration ein abruptes Ende erfahren.
Die Großeltern väterlicherseits (Fiala-Moravec) heirateten 1914 in Wien und auch die Mutter Moravec lebten bereits in Wien. Der Großvater war Schuster in Erdberg, seine Frau Hausgehilfin. Sie hatten vier Kinder, die in ärmlichsten Verhältnissen im Wiener Fasanviertel aufgewachsen sind.
Die Großeltern mütterlicherseits (Pohan-Kvacek) kamen um 1900 nach Wien. Mein Großvater Franz Kvacek stammte von einer bäuerlichen Gegend. Sein Bruder übernahm den kleinen Bauernhof, er selbst zog als jugendlicher Schlosserlehrling nach Wien. Er arbeitete zuerst bei einer Zulieferfirma für Stahlbauprojekte und danach bei Felten & Gouillaume. Als Erinnerung an seine Arbeit besitze ich noch zwei, als Briefbeschwerer ausgeführte Seilstücke des Wiener Riesenrades. Mein Großvater Franz war ein äußerst begabter Allround-Handwerker, würde man heute sagen. Meine Großmutter Julie Pohan kam mit allen ihren Geschwistern und ihrer Mutter nach Wien nachdem ihr Vater in Mähren bei einem Arbeitsunfall als Zimmermann ums Leben gekommen war. Der älteste Bruder migrierte als erster und besaß ein Lebensmittelgeschäft in der Absberggasse und beschäftigte der Reihe nach alle fünf Schwestern als Verkäuferinnen. Diese lernten dort deutsch und waren danach als Wäscherinnen, Näherinnen und Haushälterinnen tätig aber alle mit dem Ziel, mit einer „guten Partie“ ihre gesellschaftliche Situation zu verbessern; und es gelang ihnen auch. Zwei Schwestern heirateten Schneidermeister, eine einen Lebensmittelhändler, eine einen Beamten. Meine Großmutter Julie war von Anfang an eine Selfmadefrau. Sie heiratete den ebenfalls aus der Unterschicht stammenden Schlosser und hat dadurch ihre Stellung scheinbar nicht verbessert. Das kolportierte Motiv war, dass sie aus ihm, den kommunistisch angehauchten Arbeiter einen ordentlichen Menschen machen wollte. Während alle ihre Schwestern ihre ursprüngliche Arbeit aufgeben konnten, arbeitete meine Großmutter weiterhin als Verkäuferin in einem Konsum. Viele deutsche Worte brauchte sie nicht, denn als sie später ein eigenes Geschäft eröffnete, waren überwiegend Tschechen ihre Kundschaft. Und das war bis 1938 so.
Zwischenkriegszeit
Der erste Weltkrieg zerstörte so manchen Lebensplan. Zwar kam mein Großvater Franz 1920 aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurück aber ihr Sohn starb im Alter von drei Jahren 1918 an Tuberkulose. Dieser Schicksalsschlag dürfte ihre Leidenschaft zur Arbeit beflügelt haben und begründete indirekt bedeutenden Wohlstand, der letztlich auch mein Studium ermöglichen sollte. Man darf sich diesen Wohlstand nicht zum Beispiel als Hilfsmittel zu einem besseren Leben vorstellen, denn in der Einfachheit der Lebensführung waren meine Großeltern kaum zu übertreffen.
Woher die Motive kamen, ein Kino, ein Lebensmittelgeschäft, dann eine Filiale zu kaufen, ein Zinshaus, dann noch eines, kann man nur vermuten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts komponierte Wilhelm Wiesberg /38/ das Lied D‘Hausherrnsöhnln /39/, besser bekannt mit dem Refrain „Mein Vater war ein Hausherr und ein Seidenfabrikant“; der Hausherr als Symbol für Wohlstand. Es ist gut möglich, dass dieses Lied bestimmend für die Motive meiner Großmutter war, ein Zinshaus zu kaufen; sicher aber war die Arbeit eine Flucht vor den Vorwürfen, nicht ausreichend für ihren verstorbenen Sohn gesorgt zu haben. Jedenfalls arbeitete sie hart daran, „es zu etwas zu bringen“. Ich kannte sie nur als „Hausfrau“ (aber im Sinne von „Hausbesitzerin“), wie sie von den Mietern unseres Zinshauses in Simmering genannt wurde. Aber sie war alles andere als dieser Prototyp des reichen Hausherrn. Sie war immer eine außergewöhnlich bescheidene, gütige aber sehr auf Disziplin, Ordnung und Fleiß bedachte Frau, mit dem Motto: „wie beim Essen, so bei der Arbeit“. Allerdings lernte ich dieses (für das Körpergewicht gefährliche, in vielen Fällen leider lebensgefährliche) Sprichwort so: „Jak k jídlu, tak k dílu.“, denn bei uns wurde bis zum Tod meiner Großmutter praktisch nur Tschechisch gesprochen.
Wie muss man sich die Haltung einer tschechischen Geschäftsfrau in Wien vorstellen? Sie war bürgerlich orientiert und sie war eine ganz und gar überzeugte Österreicherin. Eine einzige Reise unternahm sie 1937 zu ihren Verwandten in Mähren, kehrte aber enttäuscht wieder nach Wien zurück, nichts verband sie mehr mit der bäuerlichen Welt ihrer Verwandten. Alles, was sie sich erarbeitet hatte, kam aus Österreich. Mein Großvater an ihrer Seite war ein Sunny-Boy. Anfangs noch Kommunist, ließ er es sich als frisch gebackener Hausherr nicht nehmen, mit einer goldenen Taschenuhr auf einem Familienbild abgebildet zu werden, obwohl das ganz und gar nicht zu ihm passte.
Meine Mutter wuchs in der damaligen Parallelgesellschaft der Wiener Tschechen auf, besuchte die tschechische Volks– und Haupt–in Simmering und die tschechische Handelsschule in der Vorgartenstraße. Meine Mutter sprach bis in die dreißiger Jahre nur gebrochen Deutsch. Immer wieder erzählte man, dass sie sich als junges Mädchen bereits als Verkäuferin übte und ihre dann schon gehbehinderte Mutter vertrat; aber alles in tschechischer Sprache, denn auch der Unterricht in der Handelsschule in der Vorgartenstraße war rein tschechisch – mit Deutsch als Fremdsprache. Nur, wenn ein Lieferant ins Geschäft kam, gab es sprachliche Hürden zu überwinden und hilfesuchend meinte sie zu ihm in reinstem Kuchelböhmisch: „komm in kíche!“, denn dort, in der Küche, gab es fachliche Hilfe durch ihre Mutter oder Tante. Sie war interessanterweise stärker tschechisch-orientiert als die ihrer Mutter, weil sie ihre ganze Jugend in einer tschechischen Umwelt erlebt hat. Für meine Mutter war Masaryk ein Idol; sie war selbstverständlich Mitglied beim „Sokol“ (Falke) und bei vielen anderen tschechischen Vereinen.
Kriegsjahre
„Schicklgruber“ beendete diese Parallelkultur in wenigen Wochen. (Wie wohl die Geschichte ohne die Namensänderung des Herrn Alois Schickelgruber 1876 in Alois Hitler verlaufen wäre?) /*12 S. 65*/
Das Schulzeugnis meiner Mutter des Schuljahres 1936/37 ist noch von der „Soukromé odborné školy spolku Komenský ve Vídni“ ausgestellt, das nächste 1937/38 bereits von „Kaufmännische Fortbildungsschule des Wiener Handelsstandes, Akademiestraße 12“ bereits mit dem unvermeidlichen „Hakenkreuz-Kuckuck“ und das nach nur zwei Monaten nach dem Einmarsch. Die Blütezeit der tschechischen Schulen in Wien fand ein jähes Ende, die Liegenschaften wurden enteignet, die Lehrer entlassen.
Bei der Volkszählung 1939 wurde die Staatszugehörigkeit erhoben. Die Wiener Tschechen hatten – sofern sie noch in der tschechischen Parallelgesellschaft lebten – einen Heimatschein ihrer tschechischen Heimatgemeinde und waren daher tschechische Staatsbürger. Als solche wurden sie – wie mein mütterlicher Großvater Franz Kvacek – nicht zum Wehrdienst einberufen und für andere kriegswichtige Arbeiten eingesetzt. Meinem väterlichen Großvater Antonín Fiala beziehungsweise seinen Söhnen erging es schlechter, denn Anton der älteste war schon beim österreichischen Bundesheer eingerückt und wurde von der deutschen Wehrmacht als Soldat übernommen ohne diese Wahl zu haben.
Die Auflösung tschechischer Einrichtungen beendete so manche Laufbahn. Ein Schulfreund meines Vaters, Gustav Hradil, arbeitete in dieser Zeit in der „živnostenská“ (Gewerbebank) und bekam nach deren Schließung das Angebot, in einer Filiale in der Slowakei weiterzuarbeiten. Er nahm das Angebot an. Wer hätte gedacht, dass es zwei Jahrzehnte dauern sollte, bis ihn mein Vater wiedersah. Der Grund, warum ich dieses Detail erzähle ist, dass mir dieser Gustav Hradil viele Jahre bei der Abwicklung des Drucks der PCNEWS in der Druckerei in Zlín behilflich war.
Zwischen 1938 und 1945 kamen auch meine Großeltern gehörig unter Druck. Nach mehrmaligen Vorladungen zur Gestapo musste mein Großvater, der eine Art Freigeist, ein verspäteter Schwejk war, in ein „kleines Exil“, in unseren Garten in Kritzendorf übersiedeln, um einer Verhaftung zu entgehen (seine Wortmeldungen im Lebensmittelgeschäft erinnerten mich an gewisse Szenen im „Bockerer“). Einen Teil ihrer Geschäftsräume mussten sie für ein NSDAP-Mitglied räumen und bekamen es nach dem Krieg 1948 erst nach einem Prozess wieder zurück.
Schon als Kind bewunderte ich das Röhrenradio, mit dem die Familie in dieser Zeit Auslandssendungen auf Kurzwelle abhörte, und dass sie dafür von Hausparteien, Menschen, die mich freundlich grüßten, bei der NSDAP angezeigt wurden. Wer weiß, ob nicht solche Erzählungen unbewusst bei der Berufswahl eine Rolle spielen — ich studierte später Nachrichtentechnik, unbedingt wissen wollend, warum man für den Radio– und Fernsehempfang kein Kabel benötigt. Etwas frustrierend ist dabei, dass ich jetzt zwar ein Vorstellung davon habe aber genau genommen, weiß ich es jetzt auch noch nicht, was das Wesen eines elektromagnetisches Feld ist. Nur die Wirkung ist mir ein Begriff. Man muss eben mehr glauben als man wirklich weiß, wie uns die „Science Busters“ trefflich erzählen.
Wiederaufbau
Vorerst noch eine Anekdote aus den letzten Kriegstagen: Mein Großvater, schon seit den Tagen seiner russischen Kriegsgefangenschaft im ersten Weltkrieg kommunistischer Sympathisant, meinte, den Soldaten der Roten Armee als Freund und gut gekleidet entgegen gehen zu müssen. Als er dann ohne goldene Uhr, die er immer bei besonderen Anlässen mit einem gewissen Stolz getragen hat aber sonst gesund wieder nach Hause kam, ist er aus Enttäuschung über die kommunistische Weltrevolution spontan ins politische Lager seiner Julie gewechselt.
Nach 1945 zog sich meine Grußmutter aus gesundheitlichen Gründen aus dem Geschäftsleben zurück. Die Leiterin ihrer Filiale übersiedelte in die Sudentengebiete – sie sollte sie 15 Jahre lang nicht mehr sehen, denn Tschechen durften (wenn es nicht unmittelbare Familienangehörige waren) erst im Pensionsalter ausreisen. Das Hauptgeschäft übergab meine Großmutter an meine Mutter. Es gab zwar noch Kunden aus der tschechischen Gesellschaft aber von ihnen allein konnte man nun nicht mehr leben. Meine Eltern waren beide zweisprachig in Wort und Schrift und sprachen akzentfreies Deutsch. Nur der Familienname und ihr soziales Umfeld kennzeichneten sie als Tschechen.
Interessant ist, dass meine Großeltern, die zwischen 1900 und 1910 nach Wien kamen, immer noch als Tschechische Staatsbürger in Wien lebten. Auch meine Mutter war daher Tschechin. Erst 1948 suchten alle um die österreichische Staatsbürgerschaft an.
Die tschechischen Schulen
Die tschechische Minderheit in Wien, so wie ich sie bis etwa 1970 erlebt habe, war eine eigene kleine Welt. Natürlich hatten meine Eltern geschäftliche Kontakte im Bezirk aber private Kontakte hatten sie nur in der tschechischen Gesellschaft. Etwa bei der Hälfte der befreundeten Familien war ein Ehepartner deutschsprachig; deren Kinder besuchten praktisch ausschließlich deutschsprachige Schulen. Meine Eltern stammten aber beide aus der tschechischen Minderheit und ich hatte dadurch die Möglichkeit, die Volksschulzeit in der einzigen noch verbliebenen Schule am Sebastianplatz zu besuchen. Bis zum Eintritt in die Volksschule 1954 sprach ich kaum Deutsch. Am Ende der 4. Volksschulklasse waren meine Deutschkenntnisse ausreichend, um die nachfolgende AHS bestehen zu können. Immerhin war ich sprachlich so wenig auffällig, dass niemand mich als Tschechen angesprochen hat.
Vielleicht sollte man hier anmerken, wer der Namensgeber dieser Schulen, Jan Amos Komenský (deutsch Johann Amos Comenius) eigentlich war: er war ein erster großer Pädagoge, der durch folgende Ansichten Begründer einer Ausbildungsphilosophie wurde: „Alles Fließe aus eigenem Antrieb, Gewalt sei fern den Dingen“. „Alle alles in Rücksicht auf das Ganze zu lehren“. Er forderte zwangsfreien Unterricht und sah in der Bildung „den Weg, die Menschen aus ihren Irrtümern zu befreien und sie zurückfinden zu der Ordnung, wie Gott sie vorgesehen hatte.“ Er forderte Schulpflicht für Jungen und Mädchen, einheitlich für alle Stände bis zum 12. Lebensjahr, danach eine Begabtenförderung. Er betonte ein ganzheitliches Lernen mit allen Sinnen; modernen Unterricht eben; aber um 1600, 170 Jahre vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht durch Maria Theresia.
Meine Kindergarten- und Volksschulzeit war ein Ausbildungsparadies. Eine sehr saubere Schule, Zentralheizung, jede Klasse hatte einen eigenen Umkleideraum, die Klassenzimmer wurden nur mit Hausschuhen betreten. Die Schule verfügte über eine eigene Küche, Ganztagsbetreuung war und ist selbstverständlich. Eine alljährliche Akademie zeigte eine Leistungsschau aller Klassen. Der Unterricht erfolgte in tschechischer Sprache, die für alle Kinder auch die Muttersprache war. Aber es gab natürlich Deutschunterricht und zwar so viel, dass mit dem Abschuss der vierten Klasse ein Übertritt in ein deutsches Realgymnasium möglich war. Die Schule hatte und hat Öffentlichkeitsrecht. Alles kostenlos! Kein Wunder, dass in den kargen Zeiten der Zwischenkriegszeit auch viele deutsch-sprachige Kinder die tschechische Schule besuchten.
Bewegung und Sport war wesentlicher Unterrichtsbestandteil. Die am Schulstandort beheimateten Vereine Sokol /17/ und Slovan /18/ sind in mehreren Sportarten in den jeweiligen österreichischen Ligen vertreten. Der heutige Fußballplatz der Wiener Austria entstand am Grund der Sportplatzes „Ceské srdce“ (Tschechisches Herz), der seit 1922 von Slovan bespielt wurde. Auf diesem Platz haben mehrere meiner Verwandten bei Turnveranstaltungen aktiv teilgenommen. Vom Verkaufserlös dieser Liegenschaft finanziert sich der Verein heute noch.
Einmonatige Sommerlager in der Tschechoslowakei wurden ebenfalls kostenlos angeboten, was meine Eltern zwei Mal in Anspruch nahmen, weil das meine Betreuung in den Sommerferien bedeutend erleichterte. Dass es sich dabei um typisch kommunistische paramilitärische Pionierlager handelte, war sogar uns Kindern klar aber es sind dadurch keine „ideologischen Schäden“ zurückgeblieben. Die Schule selbst hatte diesen kommunistischen Charakter keineswegs, auch Religionsunterricht war inkludiert.
Schrittweise Assimilation
Wie überaltert und verstreut eigentlich damals schon die tschechische Gesellschaft war, zeigt der Umstand, dass es in unserem Haus und auch in der Umgebung kein gleichaltriges Kind gab; weder tschechisch noch deutsch sprechend. Man musste sich in Vereinen treffen, das dafür umso intensiver. Die Tschechen waren und sind ein gemütliches Volk und ließen keine Gelegenheit aus, sich zu treffen und zu feiern.
Es sind mehrere Gründe, warum sich das Tschechische in unserer Familie so lang erhalten hat. Meine Großeltern sind erst während der Regierungszeit Luegers nach Wien gekommen und weil meine Großmutter selbständig war, empfand sie nicht die Not der lohnabhängigen Tschechen, etwa in den Ziegeleien rund um Wien. Durch ihren Besitz war eine Rückwanderung in die Tschechoslowakei kein Thema. Die tschechische Sprache war für den Betrieb ihres Lebensmittelgeschäfts notwendig, die Kunden waren ja auch Tschechen.
Als meine Mutter anfing im Lebensmittelgeschäft der Eltern zu arbeiten, sprach sie auch nur mangelhaft deutsch, doch bis 1950 perfektioniert sie das Deutsch in ihrem Geschäft, und es hörte sich etwa so an, wie das des unvergesslichen Maxi Böhm. Da mein Vater ebenfalls aus der tschechischen Gesellschaft stammte, und bei uns immer nur Tschechisch gesprochen wurde, war es klar, dass ich ebenfalls die tschechische Schule besuchen würde. Die Umgangssprache war bis etwa 1970 rein tschechisch, das war aber immerhin schon 70 Jahre nachdem die Großelterngeneration nach Wien auswanderte.
Dass Annahme der Gastlandsprache auch viel schneller gehen kann, zeigt das Beispiel unseres Autorenkollegen Karel Štípek. Er kam 1996 nach Österreich und suchte sofort nach Kontakten in seinem Fachgebiet. Seinen ersten Artikel 1996 in der Ausgabe PCNEWS-49 musste ich noch stellenweise korrigieren. Aber der vorigen Ausgabe 122 hat mir Karel einen Fotokurs in perfektem Deutsch zur Verfügung gestellt. Karel kannte die tschechische Schule in Wien. Da es aber 1996 noch keine tschechische AHS gab, besuchten seine Kinder vom Beginn an eine ganz normale Wiener AHS.
Man kann aber dieses Paradebeispiel an Integration nicht verallgemeinern; meine Großmutter hätte das nicht geschafft.
Integration und Assimilation
Unter Integration /19/ versteht man den Prozess der Teilnahme einer Migrantengruppe am Leben der Aufnahmegesellschaft, beginnend beim Spracherwerb und mündend in einem Zugehörigkeitsgefühl der Migranten zur Aufnahmegesellschaft. Zur vollständigen Integration ist es nicht erforderlich, dass die Muttersprache der Migranten aufgegeben wird, auch ist es nicht notwendig, dass sie die Bindungen zu ihrer eigenen Welt oder zu ihrer Religion aufgeben, wenn auch letzteres hilfreich ist. Wichtig ist nur die Identifikation mit dem Aufnahmeland und ihre Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft.
Unter Assimilation versteht man allgemein die Aufgabe der eigenen Sprache und Annahme der Sprache der Aufnahmegesellschaft. Assimilation ist mehr als Integration und man muss zur Definition in /20/ auch ergänzen, dass nicht nur die Sprache sondern auch religiöse Haltung und kulturelle Gebräuche anzugleichen sind.
Die Assimilation der Tschechen betrug in der Ära Lueger oft nur wenige Jahre /12/. Ihre Integration im Sinne eines friktionsfreien Lebens in Wien erfolgte erst nach der ersten Rückwanderungswelle durch eine konziliante Politik der Stadt Wien in der Zwischenkriegszeit. Dem Druck während des Zweiten Weltkriegs folgte eine weitere Rückwanderungswelle. Der Eiserne Vorhang verhinderte Kontakte zwischen Verwandten und reduzierte die Zahl der Tschechen weiter. Heute scheint sich die Zahl der Wiener Tschechen zu stabilisieren, weil dem Rückgang ihrer Zahl durch Assimilation ein stetiger Zuzug aus der Tschechischen Republik gegenübersteht. Heutige Tschechen kommen ja nicht in ein ganz fremdes Land, denn sie finden in Wien tschechische Strukturen vor, die ihnen das Leben bedeutend erleichtern.
Bei den Tschechen erfolgt der Assimilationsprozess durch gemischtsprachige Ehen; die folgende Generation spricht deutsch. Bei den Tschechen ist dieser Prozess problemlos, weil die Ehepartner meist beide katholisch sind oder bereits eine große Religionsferne haben.
Es nützen aber alle Bemühungen um Integration nicht, wenn die Aufnahmegesellschaft diese nicht anerkennt. Sarkastischer könnte man anmerken, dass die Tschechen beweisen mussten, dass sie als Gruppe einen mehr als 100 Jahre dauernden Prozess „überleben“, bevor sie – marginalisiert – 1976 als Volksgruppe unter Bruno Kreisky anerkannt worden sind.
Das ist aber bei Gruppen mit einer größeren kulturellen Distanz zu unserer nicht der Fall, speziell bei einer Dominanz religiöser Vorstellungen, die eine Eheschließung zwischen Einheimischen und Migrantensehr erschwert.
Kinder haben ein Recht auf Unterricht in der Muttersprache
Ein Kind, das bis zum Schuleintritt die Sprache der Eltern spricht, hat ein Recht darauf, diese Sprache auch in der Schrift zu erlernen. Und es ist die Pflicht der Eltern, das zu ermöglichen. Der Grund ist, dass gewisse Lernprozesse nur zu einer bestimmten Lebenszeit erfolgen können, die man nie mehr nachholen kann (Prägungen). Dazu gehören zum Beispiel das Sehen und Hören aber auch die Sozialisation und auch der Spracherwerb. Wir wissen, wie selbstverständlich Kinder eine oder auch mehrere Sprachen lernen können, wenn nur Gesprächspartner vorhanden sind. Mit dem Spracherwerb einhergehend ist auch die Art zu Denken und zu kommunizieren. /21/
Muttersprachlicher Unterricht ist für die weitere Entwicklung des Kindes sehr wichtig. Das BmUKK trägt diesem Umstand Rechnung /22/ aber nur etwa 15% der Kinder, die eine andere Umgangssprache haben, erhalten diesen Unterricht auch /23/.
Es sollte uns ein wichtiges Anliegen sein, Kindern muttersprachlichen Unterricht zu ermöglichen. Und wenn wegen der geringen Zahl von Migranten keine Schule besteht, dann müssten die Eltern im Interesse ihrer Kinder die deutsche Sprache verwenden, wo immer es geht. Und dass es geht, zeigt das Beispiel von Karel. Fairerweise muss man sagen, dass diese Fähigkeit auch eine Frage der Vorbildung ist und in dieser kurzen Zeit nur von wenigen zu bewältigen ist.
Wenn es aber um eine große Zahl von Migranten geht, wie es bei den Tschechen von 100 Jahren der Fall war, oder bei den Türken heute der Fall ist, ist eine Organisation dieser Gruppe gefragt, die für ihre Kinder geeignete Schulen bereitstellt. Gefordert wäre in diesem Fall insbesondere das Mutterland, das mit finanzieller Hilfe die Errichtung der Schulen und Finanzierung der Lehrer ermöglicht.
Integration am Fußballplatz
Fußballvereine sind Stätten der Integration. Anderswo möglicherweise ausgegrenzt, werden erfolgreiche Migranten am Fußballplatz gefeiert. Und das war schon seit den Anfängen des Fußballs so. Bei Rapid waren es in der Monarchie die Brüder Schediwy (šedivý = grau), nach dem Ersten Weltkrieg der erste Superstar des Fußballs, der „Pepi der Tank“ genannte Josef Uridil (urídil = er hat gelenkt, gerichtet); bei der Wiener Austria war es in den dreißiger Jahren der leichtfüßige, „Der Papierene“ genannte Matthias Sindelar (šindelár = Schindler).
Diese beiden Spieler waren prägend für den Spielstil dieser beiden Mannschaften noch weit über ihre aktive Zeit hinaus: großer Kampfgeist bei Rapid und brillante Technik bei der Austria.
Die tschechischen Wiener Turnvereine Slovan und Sokol waren für ihre Leistungen bekannt. Der Fußballklub Slovan/HAC (gegründet 1902 /24/) spielte von 1923-1939 in der obersten Spielklasse und danach auch noch zwei Mal im österreichischen Cup.
Meine Tante, heute 83 Jahre, erzählte von ihrer Schulzeit am Sebastianplatz, dass einige ihrer Schulkameraden täglich mit dem Bus von Vösendorf zur Schule gebracht wurden. Es waren Kinder der letzten „Ziegelböhm“, darunter der berühmte Rapid-Tormann Walter Zeman (zeman = Edelmann), der eine außergewöhnliche Körperbeherrschung besaß und bei Rapid zum „Löwen von Mailand“, „Tiger von Paris“ und „Panther von Glasgow“ wurde.
Auch heute präsentiert sich der Fußballverein Rapid multikulturell; Spieler mit Migrationshintergrund zählen zu den Stützen der Mannschaft und sind überproportional vertreten. Hier eine Kostprobe der aktuellen Namen:
- Yasin Pehlivan: yasin = Einleitungsbuchstaben der Koransure Yasin, pehlivan = Held (persisch)),
- Veli Kavlak: veli = 1.Vormund- 2. Heilig- 3. jemand, der für ein Kind verantwortlich ist; kavlak = Baum mit abgeschälter Rinde; Haut die beim Sonnenbrand abgeht, sich schälen,
- Tanju Kayhan: tanju = der Name, den die Chinesen den türkischen Gefangenen gegeben hatten; kayhan = der starke und mächtige Herrscher,
- Ümit Korkmaz: ümit = Hoffnung; korkmaz = der Furchtlose, jemand, der nicht aufgibt und mutig ist,
- Hamdi Salihi: hamdi= den Herrn preisen, Gott dankbar sein; salih = 1. geeignet, passend, brauchbar; 2. fromm, den Regeln der Religion anpassend
Als der albanische Rapid-Stürmer Hamdi Salihi beim Weihnachts-Charity 2010 Punsch an die Gäste ausgeschenkt hat, wurde er mit großem Jubel empfangen. Die vier Tore vom Spiele gegen den LASK haben diese Stimmung stark beeinflusst. (Über die Töne, die von den Rängen zu hören sind, wenn es einmal nicht so gut läuft, schweigen wir lieber.)
Tschechen der 50er Jahre standen dagegen hinter der Wiener Mannschaft, auch, wenn sie gegen eine Prager Mannschaft gespielt haben. Nur meine Mutter schwankte bei Sportveranstaltungen fallweise noch in der Frage, zu wem sie halten soll: zu den Österreichern oder zu den Tschechen. Meine Großmutter hatte dagegen kein Problem: sie hielt klarerweise zu den Österreichern.
Fußball ist ein gar nicht so schlechter Gradmesser für Integration.
Ein sehr schönes Beispiel für identifikatorische Integration beschreibt Florian Scheuba in seinem Buch „Cordoba, das Rückspiel“ /25/ (gleichnamiges Bühnenstück), in dem der Sohn der deutschen Migranten bereits Rapid-Fan ist. In diesem Sinn wären Türken in Wien, die Besiktas-Fahnen schwenken, noch lange nicht integriert. /52/
Es besteht insgesamt die Hoffnung, dass Fußball durchaus einen positiven Beitrag zu einer gelungenen Integration liefern kann. Und es bedarf viel mehr solcher Projekte.
Integration und Assimilation meiner Familie
Integrationsprozess
Die sprachliche Integration der erste Generation war bestenfalls ausreichend; einen heute verpflichtenden Deutsch-Test hätten die Großeltern auch nach 60 Jahren wahrscheinlich nicht bestanden. Der Spracherwerb war auch wegen der funktionierenden tschechischen Parallelgesellschaft weniger wichtig. Bereits die zweite Generation war sprachlich voll integriert. Der Prozess hinterließ auch Spuren in der Sprache der Wiener.
Die kulturell-soziale Integration in der wienerischen Gesellschaft fand erst nach Eheschließungen zwischen Tschechen und Österreichern statt und war dann aber eine Assimilation, denn die tschechische Sprache verschwand. Dass das zu Luegers Zeiten so gar nicht harmonische Leben der Tschechen in Wien dann in den 50er und 60er Jahren so gemütlich dargestellt wurde und auch bereits so empfunden wurde („Als Böhmen noch bei Österreich war.“), liegt vielleicht auch an der Bier- und Weingemütlichkeit, die beiden Völkern gemeinsam ist. Der Heurige oder das Schweizer Haus waren und sind Begegnungsorte, die die brutale Vergangenheit vergessen machen.
Die identifikatorische Integration war in meiner Familie sehr hoch, wenn man das aber auch nicht verallgemeinern kann. Viele der Wiener Tschechen zogen es ja vor, Österreich (mangels Identifikation und mangels Perspektiven) wieder zu verlassen.
In allen mir bekannten Fällen innerhalb der Wiener Tschechen erfolgt der Übergang von der tschechischen zur deutschen Umgangssprache durch Eheschließung der Tschechen mit einem deutschsprechenden Partner, deren Kinder dann ausnahmslos deutsche Schulen besuchen und die tschechische Sprache nicht mehr erlernen. Heirateten dagegen Tschechen innerhalb ihrer Gruppe, besuchten ihre Kinder überwiegend die tschechische Schule und waren daher zweisprachig. Dass Familien mit vorher tschechischer Umgangssprache zur deutschen Umgangssprache übergehen, kam praktisch nicht vor; vielleicht war das in den Kriegsjahren der Fall.
Religion war bei Tschechen kein Ehehindernis, denn die Tschechen sind mehrheitlich konfessionslos oder katholisch.
Assimilationsprozess
Die folgenden Zeilen beschreiben den sprachlichen Assimilationsprozess in meiner Familie. Angegeben wird in Prozent der Anteil der Familien mit tschechischer Umgangssprache.
Erste Generation 100%
Um 1900 kamen 15 Tschechen nach Wien, davon eine ganze Familie (Mutter und 6 Geschwister) Wien. Durch Heirat bilden sie bis 1914 7 rein tschechische Familien; alle sprachen tschechisch und lebten in der tschechischen Gesellschaft.
Zweite Generation 67%
Aus diesen sieben Ehen entstammten 12 Kinder, die alle mit tschechischer Umgangssprache aufwuchsen, drei sind verstorben, einer blieb ledig, zwei sind rückgewandert nach Tschechien. Von den sechs verbleibenden Kindern hatten vier einen deutsch sprechenden Partner und zwei einen tschechisch sprechenden.
Dritte Generation 40% (dazu gehört auch der Autor)
Die in Wien verbliebenen sechs Familienhaben fünf Kinder; zwei Kinder sprechen tschechisch, drei Kinder deutsch.
Vierte Generation 0%
Kein Kind der Folgegeneration spricht tschechisch, die meisten dieser Kinder kennen diese Geschichte nicht mehr.
Migration in Österreich
Von wo und warum überhaupt Migranten nach Wien kommen ist egal; wir brauchen sie /43/. Die politische Rechte kann sich zwar unsere Stadt gut ohne jede Migration vorstellen. Aber eine Stadt kann es sich nicht aussuchen, ob sie Migration will oder nicht. Ohne Migration gäbe es sie gar nicht. Gründe für die Migration sind vielfältig, die Wirkungen in der Kommune sind aber gleich. Migration ist für die Stadt die einzige Möglichkeit, nicht zu schrumpfen.
Ob es die Tschechen vor 100 Jahren waren oder die Türken von heute sind. Jede dieser Migrationswellen führt zu irrationalen Ängsten der Aufnahmegesellschaft und ruft Politiker mit abstoßenden Parolen auf den Plan. Zwar war die Menge der Migranten vor 100 Jahren viel größer, doch kulturell standen uns die Tschechen näher als die Türken von heute. Aber da sind sie nun einmal, und wir sind aufgefordert, gemeinsam das Beste aus dieser Situation zu machen; das Beste für Österreich.
Das Fremde macht neugierig, das Fremde macht Angst. Fremde Einflüsse beflügeln die Entwicklung, verändern das Land.
Fremd ist interessant—aber nicht zu viel. Gerne gehen wir exotisch essen. Wenn aber dann das Exotische an jeder Straßenecke zu finden ist, empfinden wir es als bedrohlich.
Migration allein ist aber gar nicht das Problem, denn wenn das so wäre, müssten sich die Wahlparole von HC gegen die Migranten aus Deutschland richten. Die studierwillige österreichische Jugend müsste im HC-Jargon gegen die „Horden aus dem Norden“ zu Felde ziehen, müssten Beschäftigte des Gastgewerbes sich gegen die „Konkurrenz aus Preußen“ wehren, ist doch die Zahl der Migranten aus Deutschland höher als aus irgend einem anderen Land. Dennoch bleiben lautstarke Proteste aus.
Ganz anders ist das bei den türkischen Migranten, die sich noch dazu in Geschäftsfeldern bewegen, die ihnen gerne und ohne Konkurrenz überlassen werden (Handy-Shops, Kebab, Schuster, Schneider).
Wahrscheinlich liegt diese Ungleichbehandlung desselben Problems an zwei Elementen: an der kulturellen Distanz und am Ausbildungsstand der konkurrierenden Schichten.
Die Türken in Österreich
Etwa 1,6% der österreichischen Bevölkerung hat die türkische Staatsbürgerschaft, ca. 3% der Bevölkerung Österreichs ist türkischer Abstammung /26/, wobei der Identifikationsgrad mit 30% /27/ relativ gering ist, gleichzeitig ist der Stellewert der Religion sehr hoch. /41/ Die meisten Türken wohnen in Vorarlberg; etwa doppelt so viele wie in Wien und Tirol.
Wenn wir die Situation der türkisch-stämmigen Bevölkerung betrachten, ihre soziale Situation, ihre Wertvorstellungen kann man den Eindruck gewinnen, auf unsere eigene Vergangenheit zurückzublicken, denn sie entspricht ziemlich genau unseren eigenen Vorstellungen vor etwa 50 Jahren. /40/
Eine Eigendarstellung findet sich auf der Homepage „Türkische Gemeinde“ /28/. Ein Verzeichnis islamischer Schulen findet man auf der Homepage der islamischen Glaubensgemeinschaft. /29/ Am Wiener Zentralfriedhof gibt es eine islamische Abteilung und in Wien Inzersdorf einen islamischen Friedhof. /30/ Einige Gebetsräume und Moscheen /39/ werden betrieben.
Bei den Integrationsbemühungen der Türken muss nicht nur die Sprachbarriere, sondern auch die viel weiter gehende Barriere der Lebensart, geprägt durch die Lebensgewohnheiten des Islam, überwunden werden.
Wie sich der Anteil türkisch-stämmiger Migranten weiter entwickelt, ist eine Frage des weiteren Zuzugs, der Integrationsbemühungen und der Geburtenrate. Ohne Assimilation würde der Anteil der türkisch-stämmigen Bevölkerung zunehmen, weil die Geburtenrate der Österreicher bei 1,3, die der Türken aber bei 2,9 liegt. Wenn daher die Mehrheitsbevölkerung ein Problem mit der Anwesenheit türkisch-stämmiger Bevölkerung hat, dann wird sich das Problem in Zukunft verstärken, weil der Anteil der türkisch-stämmigen Bevölkerung zunimmt – auch ganz ohne weiteren Zuzug.
Eine entspannte Situation kann sich einstellen, wenn sich die bestehenden Relationen einpendeln, wenn nämlich die höhere Geburtenrate der türkisch-stämmigen Bevölkerung auch eine Abnahme ihres Anteils durch Assimilation gegenübersteht. Ob aber Assimilation stattfinden kann, liegt an der Fähigkeit der Bevölkerungsgruppen, über den Schatten ihrer Religion springen zu können. Denn die Quadratur der Assimilation besteht in der Akzeptanz interreligiöser (besser interkultureller) Ehen, die für die Kinder keine Einbahnstraße in Richtung einer der beiden Religionen ist.
Parallelwelten
Die heutigen türkischen Parallelwelten in Wien, insbesondere in Favoriten, Ottakring und Fünfhaus waren vor 100 Jahren jene der Tschechen. (Fast) kein Unterschied. Dieselben Ängste, dieselben Anfeindungen, dieselbe Sprache mancher Politiker; damals wie heute.
Aus der Sicht des sozialen Umfeldes eines Migranten ist aber dieser Parallelwelt äußerst praktisch, weil er seine Geschäfte, seine Freunde in unmittelbarer Nähe findet. Dass diese Migrantenviertel eher ärmliche Gegenden sind, ist nicht weiter verwunderlich. Um das zu beheben, brauchen wir nur dafür zu sorgen, dass die Migranten eine gute Schulbildung bekommen; dann bekommen sie bessere Jobs und verlassen ihre Wohngegenden ganz von allein.
Alle wollen anerkannt werden:
Das ist Integration!
Ein Arzt und ein Türke wohnen Haus an Haus und treffen sich im Garten.
Der Türke: „Mir beide gleich, ich habe Haus, du haben Haus, mir beide gleich!“
Der Arzt: „Nein – weil ich hab zusätzlich noch einen Porsche in der Garage!“
Der Türke werkt und pfuscht und kauft sich einen – wenn auch gebrauchten – Porsche.
„He Doktor – jetzt mir beide gleich – ich habe Haus und Porsche und du haben Haus und Porsche!“
Darauf der Arzt: „Nein, wir sind immer noch nicht gleich, ich hab ja auch einen Swimming-Pool!“
Der Türke baut sich daraufhin mit einiger Plage und finanzieller Anstrengung auch einen Pool.
Der Arzt: „Ja sieh einer an – jetzt sind wir tatsächlich gleich! Wir haben beide ein Haus, einen Porsche und einen Swimming-Pool!“
Der Türke: „Nein, mir nix gleich! I bin bessa! I habe Doktor als Nachbar und du nur Türke!“
Schulwesen
Es gibt Privatschulen, die türkische Muttersprache vermitteln aber die sind ausnahmslos islamische Privatschulen, die auch Türkisch und Arabisch vermitteln, daneben aber auch das ganze Koran-Programm. Die Betonung liegt auf „islamisch“. Eine Hürde ist das zum Teil erhebliche Schulgeld.
Den türkischen Migranten fehlt es aber an türkischen Schulen, die auch vom türkischen Staat unterstützt werden. Daher muss das österreichische Bildungswesen diese Lücke schließen und bietet in Ballungsräumen muttersprachlichen Unterricht an Hier sieht man auch, dass eine Konzentration der Migranten auf wenige Gebiete auch von Vorteil sein kann, weil eine ausreichend große Zahl von Kindern muttersprachlichen Unterricht in türkischer Sprache ermöglichen.
Von Entwicklungspsychologen wird immer wieder betont, wie wichtig es ist, dass Kinder sich in ihrer Muttersprache in Wort und Schrift ausdrücken können. Wenn türkisch sprechende Kinder schon in der Volksschule ausschließlich Deutsch lernen, ist das Ergebnis, dass die Kinder Türkisch nur in Wort erlernen und das Deutsch praktisch als Fremdsprache auch nicht in ausreichender Tiefe, weil ihnen die Gesprächspartner fehlen.
Den Tschechen in Wien ist der tschechische Nationalismus zu Gute gekommen, der sich um die Bewahrung des Tschechischen auch in Wien durch die Gründung von Schulen bemüht hat. Alle diese Schulen haben Öffentlichkeitsrecht, daher ist ein Abschluss in einer dieser Schulen mit deutschsprachigen Schulen gleichgestellt. Der österreichische Staat musste sich eigentlich nicht um die Ausbildung der tschechischen Minderheit kümmern, die erfolgte praktische selbstorganisiert.
Bei den Türken muss das österreichische Schulwesen ein Problem lösen, mit dem er mangels geeigneter Lehrer überfordert ist, denn die Lehrer in einer türkischen Schule im Öffentlichkeitsrecht müssten sich aus der türkischen Bevölkerungsgruppe rekrutieren.
Das Modell der tschechischen Schulen in Wien ist ein Erfolgsmodell und könnte vom türkischen Staat für seine Emigranten übernommen werden. Vielleicht ist ja die Wortmeldung des türkischen Botschafters ein Beginn des Nachdenkens in dieser Richtung. Allerdings wäre auch der türkische Staat zur Beteiligung an den Schulbauten gefordert.
Vielfach wird dieses Schulmodell aber abgelehnt, weil man Ghetto-Bildung in diesen Schulen befürchtet. Ein Studium der 140jährigen Erfahrung des Komensky-Schulvereins , könnte die Beurteilung erleichtern. /31/ /32/
Hier ein Zitat aus der Wikipedia zu „Sprachentwicklung“: „Hauptziel von Kindern, Sprache zu erwerben, liegt im Aufbau von sozialen Kontakten, nicht vordringlich in der Weitergabe von Inhalten.“ Da Migrantenkinder in der Schule oft auf Ablehnung stoßen, finden sie diese Kontakte dort nicht ausreichend. Würde die Schule aber als türkisch-sprachige Schule geführt, würden sie diese Schule ähnlich erleben wie ich seinerzeit die tschechische Schule: in Einklang mit dem Elternhaus und behutsam vorbereitend auf die spätere deutsche Schule.
Bildung
Sowohl Tschechen um 1900 als auch die Türken von heute stammten und stammen überwiegend aus strukturschwachen, ländlichen Gebieten. Wir wünschen uns zwar den Zuzug qualifizierter Fachkräfte aber das wünschen sich andere Länder auch und daher gibt es um diese Personengruppe einen Wettbewerb. Langfristig sind weniger qualifizierte Zuwanderer nicht unbedingt ein Nachteil, denn auch sie wollen für ihre Kinder eine gesicherte Zukunft. Und daher sind unsere Schulen voll, voll mit Migrantenkindern und in wenigen Jahren sind sie da, die besser qualifizierten Fachkräfte, die noch dazu den Vorteil haben, hier ausgebildet worden zu sein.
Assimilation
Assimilation findet – wie wir bei den Tschechen gesehen haben – statt, wenn es zu interkulturellen Ehen kommt und die Kinder deutsche Schulen besuchen. Assimilation wirkt dem rascheren Wachstum der türkisch-stämmigen Bevölkerung entgegen.
Wichtiger aber als die Angleichung der Sprache und der Kultur in der Beziehung selbst ist die Botschafterwirkung für die anderen. Jeder Ehepartner ist in seiner eigenen Bevölkerungsgruppe ein verständnisvoller Vermittler der Lebensart seines Partners aus der anderen Bevölkerungsgruppe und damit erhält jede der beiden Bevölkerungsgruppe mit jeder dieser Beziehungen einen Botschafter bei der jeweils anderen.
Interreligiöse Ehen zwischen Katholiken und Muslimen dürften wegen der Eigenart des islamischen Rechts weniger häufig vorkommen; interkulturelle schon eher, wobei „interkulturell“ hier meint, dass die Religion keinen hohen Stellenwert (mehr) hat.
Genaugenommen werden religiös geprägte Menschen von zwei Rechtssystemen geleitet: jenem der Religion und jenem des österreichischen Rechts und dieser Unterschied ist naturgemäß bei Christen kleiner als bei Muslimen. Natürlich kann in Österreich heiraten wer will aber umgekehrt bedeutet das nicht, dass Moslems das tun; man bleibt unter sich und damit erfolgt keine Angleichung der Kulturen sondern die Distanz bleibt bestehen.
Der Islam /29/ /33/ schreibt seinen Anhängern ziemlich genau vor, wie in Fragen der Eheschließung vorzugehen ist. Einer Muslima ist es von vornherein untersagt, einen Christen zu heiraten, ein Moslem darf zwar eine Ehe mit einer Christin eingehen, er muss aber seine Kinder als Moslems erziehen. /34/ /35/
Ehen zwischen Muslimen und Christen sind daher nicht einfach, wenn auf religiöse Tradition Wert gelegt wird. Solche Ehen sind auf Grund des islamischen Rechts Einbahnstraßen—Richtung Islamisierung. Dass das islamische Recht bei uns nicht gilt, das sticht der Joker der „Religionsfreiheit“.
Derzeit geht der Trend Richtung Parallelgesellschaft, Assimilation findet kaum statt. Das zeigen uns die Kopftücher der jungen Musliminen. Denn diese modischen Tücher sind mehr Signal als Tradition; sie sagen uns „ich suche einen Moslem als Mann“. /42/
Ob es daher zu einer Angleichung der Wertesysteme durch interreligiöse Ehen ohne Einbahnstraße kommen wird, ist daher erst dann in Aussicht, wenn die Ehepartner bei den Moslems der Stellenwert des tradierten islamischen Rechts soweit abgenommen hat, dass es nicht zum Tragen kommt und die Ehe rein standesamtlich zustande kommt und dass die Familie ihre Religion eher durch Blick ins Familienalbum als in der Kirche oder Moschee auslebt.
Wie werden wir das erkennen?
Wenn es einmal einen Sebastian Kavlak oder eine Fatima Müller geben wird. Wenn der Familienname dem Vater folgt, hätte Sebastian einen türkisch-stämmigen Vater, der dem Wunsch der Mutter nach dem österreichischen Namen Sebastian entsprochen hat und die Fatima, die einen österreichischen Vater hat, der dem Wunsch der türkisch-stämmigen Mutter nach einem türkischen Namen entsprochen hat.
Diesen Test kann man laufend mit Hilfe des österreichischen Telefonbuchs überschlagsmäßig durchführen. Von den 66 Treffern zu „abdulah*“ (wird sowohl als Vorname als auch als Nachname verwendet) findet man nur einen einzigen österreichisch klingende Vornamen „Albert“ und keinen österreichisch klingenden Familiennamen. Daraus sehen wir: Türken (besser Moslems) heiraten (noch) in ihrer Bezugsgruppe. Muslimas, die vielleicht Österreicher heiraten, und auf türkische Namen für die Kinder verzichten, die findet man natürlich so nicht.
Warum und welchem Beispiel folgend soll der Moslem seinen Glauben an den Nagel hängen?
Die österreichische Gesellschaft ist traditionell viel zu wenig laizistisch, als dass sie diesen Prozess zur Reduktion des Stellenwerts der Religion durch Beispielgebung oder Gesetzgebung beschleunigen könnte. Das Konkordat von 1933 /36/ bringt eine ziemliche Verstrickung zwischen Staat und katholischer Kirche, die in einem zweiten Konkordat 1962 noch vertieft wurde /37/.
Diese Teilnahme der katholischen Kirche am Religionsunterricht und der Betrieb katholischer Privatschulen hat weitreichende Konsequenzen auch für die moslemischen Zuwanderer. Der Staat ist mit den beiden Konkordaten in der Position, dass er anderen Religionen aus Gründen der Gleichbehandlung ähnliche Rechte einräumen muss. Und so entstehen zahlreiche islamische Schulen (nicht türkische oder arabische). Und warum? Weil der Staat mangels Tradition schwer nein sagen kann, denn wir haben ja Religionsfreiheit.
In Österreich gibt es den praktisch obligaten Religionsunterricht, es gibt zahlreiche katholische Schulen aber auch eigene kirchliche pädagogischer Hochschulen an denen Lehrer ausgebildet werden. Ein Lehrer kann daher in Österreich entweder an einer Religionspädagogischen Hochschule oder an einer Pädagogischen Hochschule ausgebildet werden. Aber das gibt es nicht generell für jede Religionsgemeinschaft sondern wegen der Konkordate nur für Katholiken. Dass man solche Regelungen für jede Religion einführen würde, ist kaum vorstellbar.
Was man aber schon erwarten könnte, ist eine gleichmäßige Distanz des Staates zu den einzelnen Religionen, beginnend mit einem Verzicht auf die enge Bindung zur katholischen Kirche, mit dem Ziel, Religion zu privatisieren; vielleicht nach dem Beispiel der Türkei?
Wir sind stolz auf unsere Menschenrechte. Zum Beispiel auf die Religionsfreiheit.
Wir sollten uns fragen, wie frei ein Mensch ist, seine Religion zu wählen, wenn er in den wichtigsten Phasen seines Lebens, als Kind, mit Glaubessätzen erzogen—um nicht zu sagen „indoktriniert“ – wurde. Er darf frei wählen, aber wie frei ist er?
Und wie weit darf die Religionsfreiheit gehen? Jede Religionsfreiheit endet, wenn es um grundlegendere Rechte geht. Wenn Religiöses sich mit staatlichem Recht nicht verträgt, ist es auch nicht anwendbar. Das Ausleben der Religionsfreiheit hat also seine Grenzen.
Religion wird das einzige Maturafach einer zukünftigen Einheitsmatura sein, bei dem die KandidatInnen nicht dieselben Fragen gestellt bekommen werden. Es ist auch dieselbe Frage möglich aber dann wieder gibt es verschiedene Antwortmöglichkeiten wie zum Beispiel bei der Frage nach dem Erzengel Gabriel. Kandidat A wird den Erzengel Gabriel als eine Flammengestalt beschreiben, bei Kandidat B wird er über das Wasser herrschen, bei Kandidat C ist Gabriel ein Ghostwriter. Alle Antworten sind richtig und der Vorsitzende muss erraten, um welche Religion es sich hier handelt. (Richtige Antwort: A Jude, B: Katholik, C: Moslem).
Die Freiheit der Religion muss für alle Religionen gelten. Warum räumt daher der Staat der katholischen Religion mehr Rechte ein als anderen? Müsste es nicht schon beim Religionspatent von Josef II. klar gewesen sein, dass der Staat auf gleichmäßige Distanz zu den Religionen zu gehen hat, denn wie sonst kann er die Gleichberechtigung der Religionen dokumentieren? Wenn daher die Gesetze eines Staates immer über jenen einer Religion stehen, warum räumt dann der Staat den Religionen eine Art Narrenfreiheit ein, indem er ihnen Freiheit zusichert, wo keine sein kann? Wenn uns der Einfluss der islamischen Religion auf die Migranten missfällt, warum gefällt es uns dann, dass es katholische Schulen in Österreich gibt?
Zusammenfassung
Die Reaktion der Mehrheitsbevölkerung auf Migration ist heute wie von 100 Jahren eine Stärkung der radikalen rechten Parteien. Der Unterschied ist, dass sie heute nicht nur in Wien, sondern in allen Ländern mit starker Migration, besonders in den Großstädten zu beobachten ist. Die heutige Bedrohung ist aber nicht unbedingt ein globaler Krieg sondern Terror.
Wir wären gut beraten, für Migranten (und damit auch für uns selbst) gute Lebensbedingungen zu schaffen, mit dem Ziel ihrer identifikatorischen Integration. Als Maßnahmen dienen kostenlose konfessionslose Kindergärten mit verpflichtender Teilnahme, Schulen mit muttersprachlichem Unterricht, phantasievolle Beteiligung der Migranten an der Verwaltung, in gemeinsamen Kleingartenanlagen, Vereinen usw. Es muss mehr an Integrationsmaßnahmen geben, wie zum Beispiel den vorbildlichen mehrsprachigen Redewettbewerb „Sag‘s Multi“ der Gemeinde Wien. /45/ Der Staat hat mehr zu tun, als die Situation einfach dem Markt zu überlassen, denn dazu sind die Unterschiede zwischen den Kulturen einfach zu groß und statt einer Annäherung und einem gegenseitigen Kennenlernen kommt es zu ausgeprägten Parallelkulturen. Es ist vielleicht wie mit der Frauenqoute: man muss durch Lenkung ein bisschen nachhelfen, wenn sich nicht ausreichend viele Migranten an Integrationsmaßnahmen beteiligen.
Die aktuelle Forderung nach Deutschkenntnissen erinnert mich an ein Sprichwort von Antoine de Saint Exupéry, /46/ das mir seit meinem Französischunterricht in Erinnerung ist und das mich als Motiv bei meiner Zeit im TGM leitete: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.“ Ein verpflichtender Deutschkurs ist wie der Auftrag, Holz zu beschaffen. Gesellschaftliche Ziele aber, wie zum Beispiel die Mitarbeit in einem Verein, sind ein Motor, mit dem das Lernen der Sprache ganz von selbst passiert.
Die Haltung der Aufnahmegesellschaft zu den Migranten ist eine Frage von Bildung.
Wer heute beobachtend Fußballplätze besucht, in die Wortmeldungen an den Eingängen von Berufsschulen hineinhört, eine Wahlveranstaltung von HC besucht, muss sich fragen, wie ein Schulsystem es zulassen kann, dass Jugendliche im Alter von 15 Jahren nur mehr eine auf den Beruf ausgerichtete Ergänzungsausbildung bekommen und die, die keine Lehrstelle bekommen oder diese gar nicht anstreben, eben gar keine. Heute, 237 Jahre nach der Einführung der Schulpflicht durch Maria Theresia, wäre es höchst an der Zeit, so wie Landeshauptmann Pühringer das gefordert hat /47/, dem wachsenden Anspruch der Arbeitswelt an die Bildung (nicht nur an die Qualifikation) der Arbeitssuchenden, diese der Jugend auch angedeihen zu lassen, wenn wir nicht wollen, dass unser Schiff von ungeeigneten Kapitänen in gefährliche Gewässer gesteuert wird. Auch die Differenzierung der Jugendlichen in Hauptschüler und AHS-Schüler steht Integrationsbestrebungen entgegen.
Leider waren die Toleranzpatente von Josef II., nicht ganz symmetrisch. Andere Religionen und christliche Konfessionen wurden zwar erlaubt aber die katholische Kirche hatte eine Sonderstellung und behielt diese bis heute. In zwei Konkordaten, zuletzt unter Unterrichtsminister Drimmel und Außenminister Kreisky, 1962 /37/ wird der katholischen Kirche der Betrieb Religionspädagogischer Akademien, heute Hochschulen, katholischer Religionsunterricht und die Kruzifixe in den Klassenzimmern zugestanden.
Dass der Bau von Moscheen von der Mehrheitsbevölkerung wo immer es geht verhindert wird, halte ich für keine gute Idee, ganz abgesehen von der Verfassungswidrigkeit. Man verhindert damit nicht das Treffen der Gläubigen, man zwingt sie nur in dubiose Hinterhof-Gebetshäuser /48/.
Religion ist öffentlich. Es muss unser Interesse sein, dass Predigten in einer öffentlichen Form stattfinden. Eine österreichweite Vereinheitlichung dieser Predigten und die Möglichkeit, diese auch in Deutsch hören zu können, wären Ansatzpunkte, unser Verständnis für den Islam und das Verständnis der Moslems für unsere Denkweise zu verbessern.
In dieser Situation sollten sich die Staaten der EU fragen, wie sie die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit interpretieren wollen, ob nicht ein Mehr an gelebtem Laizismus für ein gegenseitiges Verständnis der Religionen besser wäre als die Bevorzugung einer von ihnen. Nur zwei der EU-Staaten, Frankreich (seit 1958) und Portugal (seit 1976) haben eine laizistische Verfassung und trennen Kirche und Staat. Der sich stark verbreitende Islam mit seinen sehr abweichenden Rechtsauffassungen macht es notwendig, dass die Position des Staates in dieser Frage überdacht wird. Entweder man räumt der islamischen Religionsgemeinschaft ähnliche Rechte ein wie den Katholiken oder man geht zu allen Religionen auf gleichmäßige Distanz.
Heinz Oberhummer plädiert für verpflichtenden Ethikunterricht in den Schulen für alle—vorgetragen von Philosophen und für Abschaffung des Religionsunterrichts in den Schulen. /50/
Assimilation ist nicht aggressiv zu verstehen, in dem Sinne, dass zum Beispiel das Türkische verschwinden soll; vielmehr wäre jeder Ehepartner einer interkulturellen Ehe ein Botschafter für die Akzeptanz der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe. Jeder dieser Multiplikatoren wäre ein Integrationsbeschleuniger.
Nach meiner Ansicht kann eine bessere Integration der türkisch-stämmigen Bevölkerung nur erfolgen, wenn wir alle beginnen, „religion“ klein zu schreiben, und in diesem Punkt können wir den Moslems beispielgebend entgegengehen.
Vielerorts wird eine „islamische Aufklärung“ /49//51/ eingefordert; so, als gäbe es eine „christliche“ Aufklärung. Aufklärung ist eine Haltung, die nicht im kirchlichen Umfeld entstanden ist. Aus ihren Grundsätzen folgt schließlich eine Gleichbehandlung der Religionen durch den Staat. Der Titel „islamische“ Aufklärung macht es dem Islam schwer, der europäisch-westlichen Aufklärung zu folgen, weil „islamisch“ als Gegensatz zu „christlich“ gelesen wird.
Aber vielleicht beobachten wir in den Unruhen der letzten Wochen ein Erwachen der Bevölkerung in den arabischen Ländern. Mangel an Perspektiven treibt die Menschen auf die Straße. Man fordert das Recht, die eigene Führung wählen zu können, und das ist schon mehr als die europäische Aufklärung seinerzeit gefordert hat. Wenn man sich aber das Recht erkämpft hat, selbst entscheiden zu können, was gut ist und was nicht, erst dann wird es auch möglich sein, zu entscheiden, ob man mit oder ohne Religion leben will.
Literatur und Links
Links vom 20.2.2011
/1/ Hamann Brigitte, Hitlers Wien http://www.sandammeer.at/rezensionen/hitlerswien-hamann.htm
/2/ Europäischer Schmelztiegel „Wien“ http://www.deutschlandundeuropa.de/39_99/wien09.htm
/3/ Wien http://de.wikipedia.org/wiki/Wien
/4/ Magenschab Hans, Die Welt der Großväter, Edition S, Verlag der österreichischen Staatsdruckerei, 1. Auflage 1990
/5/ Slowakische Bezeichnungen der Münzen http://www.pitt.edu/~votruba/qsonhist/habsburgcoinsslovakcoins.html
/6/ Karl Lueger http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Lueger
/7/ Gletter Monika, Die Wiener Tschechen um 1900 http://books.google.de/books?id=3Wq_8-xFTIsC&pg=PA310&lpg=PA310&dq=lueger+tschechen&source=bl&ots=ZacZKrdIjE&sig=oSQqzRbsYSpCEYsg8fXeW2mDWuo&hl=de&ei=nEfuTPmPAYuPswb8us2DCw&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=2&ved=0CB8Q6AEwAQ#v=onepage&q=lueger%20tschechen&f=false
/8/ Im Zeichen des Nationalitätenkampfes; Slawische Mehrheit im Parlament (1907) http://www.dbb-ev.de/sudg/sudg10.html
/9/ Tschechen in Wien http://www.dasrotewien.at/online/page.php?P=12064
/10/ Tschechen in Wien http://de.wikipedia.org/wiki/Tschechen_in_Wien
/11/ Basler Richard, Ein kurzer Überblick über die Lage der Wiener Tschechen http://www.kulturklub.at/pdf/Publikationen/WrTschechen_Basler.pdf
/12/ Haman Brigitte, Hitlers Wien, Piber, 11. Auflage, Juni 2010
/13/ Andreas Raab, Zur multiethnischen Identität Wiens – Geschichte und Einfluss längerfristig wirkender nationaler Minderheiten, Diplomarbeit, Universität Wien, Lehramtsstudium, 2008 http://othes.univie.ac.at/627/1/05-05-2008_0200681.pdf
/14/ Volksgruppen in Österreich http://www.bka.gv.at/site/cob__3410/3514/default.aspx
/15/ 2. Bericht Österreichs gemäß Artikel 25 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten http://www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId=21385
/16/ Wien 3., Sebastianplatz: Tschechische Schule in neuer Blüte http://www.radio.cz/de/rubrik/mikrophon/wien-3-sebastianplatz-tschechische-schule-in-neuer-bluete
/17/ Sokol (Turnbewegung) http://de.wikipedia.org/wiki/Sokol_(Turnbewegung)
/18/ SK Slovan Wien http://de.wikipedia.org/wiki/SK_Slovan_Wien http://slovan-hac.at
/19/ Integration http://de.wikipedia.org/wiki/Integration_(Soziologie)
/20/ Assimilation http://de.wikipedia.org/wiki/Assimilation_(Soziologie)
/21/ Sprachentwicklung http://de.wikipedia.org/wiki/Spracherwerb
/22/ Muttersprachlicher Unterricht http://www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/muttersprachlicher-unterricht/aktuelles.xml
/23/ 28.000 Schüler im muttersprachlichen Unterricht http://derstandard.at/1271375531115/28000-Schueler-im-muttersprachlichen-Unterricht
/24/ Peter Heumos (hrsg.), Heimat und Exil: Emigration und Rückwanderung, Vertreibung und Integration in der Geschichte der Tschechoslowakei; s.59
/25/ Florian Scheuba, Cordoba, das Rückspiel http://www.ueberreuter.at/index.php?isbn=800074693&nr_texte=7
/26/ Türken in Europa http://de.wikipedia.org/wiki/ Liste_türkischer_Bevölkerungsanteile_nach_Staat
/27/ Türken in Österreich http://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrken_in_%C3%96sterreich
/28/ Türkische Kulturgemeinde Österreich http://www.turkischegemeinde.at/
/29/ der Islam http://www.derislam.at/
/30/ Islamischer Friedhof http://de.wikipedia.org/wiki/Islamischer_Friedhof_Wien
/31/ Komensky, Schulverein http://www.dasrotewien.at/online/page.php?P=13621&PHPSESSID=117f466aabd0f3f63a1e9da8b51c9291
/32/ Schulverein Komensky http://www.komensky.at/
/33/ Islam http://www.inforel.ch/i21.html
/34/ Ehen zwischen Katholiken und Muslimen http://www.cibedo.de/muslime_in_deutschland_dialog_13.html
/35/ Interreligiöse Ehe http://de.wikipedia.org/wiki/Interreligi%C3%B6se_Ehe
/36/ Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhle und der Republik Österreich http://www.uibk.ac.at/praktheol/teilkirchenrecht/innsbruck/konkordat.html
/37/ Konkordat über das Schulwesen 1962 http://www.verfassungen.de/at/konkordat62.htm
/39/ D’Hausherrnsöhnln http://www.volksmusik.cc/lieder/hausherrnsoehnln.htm
/38/ Wilhelm Wiesberg http://de.wikipedia.org/wiki/Wiesberg
/39/ Gebetsräume und Moscheen in Wien http://www.wien-vienna.at/kunst.php?ID=1330
/40/ Lackner Herbert, Kruzitürken http://www.profil.at/articles/1045/560/281725/kruzituerken
/41/ Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich http://de.wikipedia.org/wiki/Islamische_Glaubensgemeinschaft_in_%C3%96sterreich
/42/ Fiala Franz, Warum tragen junge Musliminen (modische) Kopftücher?, 2011 http://heimat.fiala.cc/blogfranz/post/Warum-tragen-junge-Musliminen-(modische)-Kopftucher.aspx
/43/ Fiala Franz, Türken in Wien, 2010 http://heimat.fiala.cc/blogfranz/post/Turken-in-Wien.aspx
/44/ Fiala Franz, Von Tschechen und Türken und dem Biergasthof Chadim, 2009 http://heimat.fiala.cc/blogfranz/post/Von-Tschechen-und-Turken-und-dem-Biergasthof-Chadim.aspx
/45/ Mehrsprachiger Redewettbewerb http://derstandard.at/1297818247167/Sags-Multi-15-Gewinner-des-mehrsprachigen-Redewettbewerbs
/46/ Zitate von Antoine de Saint Exupéry http://www.worte-projekt.de/exupery.html
/47/ Pühringer überlegt Schulpflicht bis 18 Jahre, Der Standard, 2010 http://derstandard.at/1293369737992/Schulpolitik-Puehringer-ueberlegt-Schulpflicht-bis-18-Jahre
/48/ Der Hassprediger, Der Standard, 2007 http://derstandard.at/2763926?seite=5
/49/ Aufklärung zwecklos, Zeit Online, 2010 http://www.zeit.de/2010/17/Ramadan
/50/ Bünker, Oberhummer, Ich habe selber ein Gipfelkreuz aufgestellt http://derstandard.at/1297818401701/Ich-habe-selber-ein-Gipfelkreuz-aufgestellt
/51/ Der Islam und die Aufklärung http://marx21.de/content/view/922/32/
/52/ Du wirst als Besiktas-Fan geboren! http://www.dasbiber.at/content/%E2%80%9Edu-wirst-als-be%C5%9Fikta%C5%9F-fan-geboren!%E2%80%9C